Persönliche Übergeschichte: Wie findet man Gott in einer Welt des Verfalls?
In der horizontalen Zeit (Chronos) herrscht die Sünde. Aber die Seele hat einen vertikalen Weg (Kairos) – den der Reinigung, Erleuchtung und Vergöttlichung.
An diesem Sonntag gedenken wir des ehrwürdigen Nestor des Chronisten, der zu Recht als Vater unserer Geschichte (die der ostslawischen Völker - Anm. d. Red.) und Begründer der Chronistik gilt. Im Zusammenhang mit dem Gedenken an diesen Heiligen möchte ich heute über die Beziehung der persönliche Lebensgeschichte jedes Menschen zur Weltgeschichte nachsinnen.
Das Horizontale des Chronos: der Trichter des Verfalls
Die persönliche Geschichte jedes Menschen ist durch sein Schicksal mit der Geschichte der Menschheit verwoben.
Jedes Schicksal ist ein dünner, kaum wahrnehmbarer Faden in einem riesigen bunten Teppich, in dem die Schicksale von Ländern und Völkern verwoben sind.
Das Leben eines jeden von uns ist wie eine kleine Lampe unter Millionen ähnlicher Lampen, die für einen sehr kurzen Moment aufleuchtet und dann für immer erlischt.
Aber diese Teilnahme an der allgemeinen linearen Bewegung der Zeit ist uns aus einem einzigen Grund gegeben – damit wir es schaffen, in dieser Horizontalen des sanft fließenden Chronos unsere persönliche heilige Geschichte zu schreiben, die uns die Möglichkeit gibt, in eine Welt einzutreten, in der es weder Zeit noch Schatten von Veränderungen gibt.
In der Weltzeit herrschen Entropie, Tod und die Last der Vergänglichkeit. Die Sünde hat darin eine enorme Anziehungskraft. Sie gleicht einem schrecklichen, klaffenden Trichter der Hölle, der jede Seele in sich hineinziehen will und uns von der Sinnlosigkeit des Widerstands, der Allmacht des Bösen und der Hoffnungslosigkeit angesichts des Todes überzeugt.
Das Vertikale des Kairos: Die Geburt der Übergeschichte
Aber genau hier, in dieser alles verschlingenden Dunkelheit, entsteht der Weg der Übergeschichte jeder Seele, die in sich die Entschlossenheit gefunden hat, sich der magnetischen Anziehungskraft des Bösen und der Unausweichlichkeit des ewigen Todes zu widersetzen.
Sie beginnt mit einem Akt der radikalen Trennung von dieser Welt. Mit der Entschlossenheit, nicht am teuflischen Mysterium teilzunehmen. In den Tiefen des Kosmos seines persönlichen Herzens verlagert der Mensch den Mittelpunkt seines Seins von der äußeren Welt in die innere Welt. Er wird Teil des Neuen Bundes mit Dem Ich Bin, Der Bin. Dem einzigen Wesen, Das wahrhaftig existiert.
In den Tiefen des inneren Lebens eines Christen beginnt die Heilige Schrift seiner persönlichen Geschichte der Beziehung zu Gott geschrieben zu werden.
Dann wird jeder Atemzug, jeder Augenblick, gewaschen von Reue, Aufmerksamkeit und Gebet, zu einem Punkt der Initiative, der auf die Ewigkeit ausgerichtet ist.
Wir hören auf, mit Abscheu auf die rasende Welt und die rasenden Menschen in dieser Welt zu blicken. Wir warten nicht darauf, dass „bessere Zeiten kommen“, denn diese werden wir höchstwahrscheinlich nicht mehr erleben. Wir schaffen unsere eigene Welt in unserem Inneren. Wir bauen eine Leiter unseres persönlichen Schicksals, die uns aus dem horizontalen Chronos, der uns in den Abgrund des Nichtseins zieht, die Möglichkeit gibt, zu den himmlischen Höhen aufzusteigen.
Schritt 1. Reinigung
Diese aufsteigende Linie ist der mystische Weg der Seele, der traditionell mit der inneren Reinigung beginnt. Dies ist der allererste und schwierigste Schritt, den wir in unserem geistlichen Leben lernen. Er wird begleitet von einem inneren Kampf gegen die Leidenschaften, wobei uns die Waffen der Askese und eine strenge Haltung gegenüber den Begierden des Fleisches, des Geistes und des Willens zu Hilfe kommen.
Der Verfall der Welt überträgt sich mit ihren Lastern auf uns und versucht, in uns innere Zustimmung hervorzurufen.
Wenn wir auf das, was um uns herum geschieht, nicht mit Gebet, sondern emotional oder sogar geistig reagieren, geraten wir sofort in den Sog des Bösen.
Die Weigerung, den Zeitgeist zu akzeptieren, der den Niedergang rechtfertigt, ist der Beginn des Aufstiegs. Die wichtigste Waffe dabei ist das Jesusgebet, dank dem wir unseren Geist im Herzen konzentrieren, unseren Verstand vom Chaos der Außenwelt ablenken und unser Bewusstsein auf den inneren Tempel richten.
Schritt 2. Erleuchtung
Die nächste Stufe ist die Erleuchtung. Inmitten der allgemeinen moralischen Finsternis der Welt wird das durch Buße erleuchtete und gereinigte Gewissen zu einem Kompass, der unfehlbar auf den Willen Gottes hinweist. Dieses innere persönliche Gesetz wird für uns über jedes andere Gesetz gestellt, egal ob es sich um sogenannte allgemein akzeptierte soziale Normen oder Verordnungen der Behörden handelt.
Die Wahrheit des Evangeliums, die sich in einem reinen, betenden Herzen widerspiegelt, wird zum einzigen Gesetz, dem der Mensch kompromisslos folgt.
Der geistige Verfall der Welt ist für Millionen von Menschen zu einer Quelle von Qualen und Leiden geworden. Aber auf dem Weg der Erleuchtung verwandeln sich diese Leiden in eine Teilhabe an den Leiden Christi. Wir beginnen, ihre Bedeutung und ihren erlösenden Sinn vor allem für uns selbst zu verstehen. Wir beginnen, Leiden ohne Angst, sondern mit Dankbarkeit wahrzunehmen. Sie sind die Medizin, die die Seele heilt und verwandelt.
Schritt 3. Vergöttlichung
Die dritte und letzte Stufe auf diesem Weg ist die Vereinigung mit Gott – die Vergöttlichung. Auf dieser Stufe wird der Mensch Teilhaber der Ewigkeit und Teilhaber der göttlichen Natur (2 Petr 1,4). Das ist die Schöpfung der Übergeschichte.
Die Früchte dieser Stufe sind das reale Bewusstsein der Gottessohnschaft oder Gottestochterlichkeit im Heiligen Geist.
Ein solcher Christ wird zu einem lebendigen Zeugen gegen den Verfall der Welt, nicht mit Worten, sondern in seinem ganzen Wesen. Aber die Welt eines solchen Menschen bemerkt dies sofort und stürzt die ganze Macht ihrer Verleumdung, Bosheit und Zerstörung auf ihn herab.
Die drei Säulen der Übergeschichte
Die metaphysisch-persönliche Übergeschichte basiert auf drei Säulen, die außerhalb der Reichweite der allgemeinen historischen Degradation liegen:
- Persönliche Suche nach Gott: Die persönliche Begegnung mit dem lebendigen Gott hat Vorrang vor allen anderen irdischen Angelegenheiten.
- Leben in es'chatologischer Perspektive: In Erwartung und vor allem in Vorbereitung auf das ewige Leben. Eine solche Perspektive lässt alle zeitlichen Probleme der Welt zweitrangig erscheinen, wie ernst sie uns auch erscheinen mögen.
- Teilnahme am Gottesdienst und an den Sakramenten der Kirche: In ihnen berühren wir die Ewigkeit, die in unsere persönliche Geschichte eintritt.
Auf diese Weise finden wir in Chronos unseren Kairos, der uns aus der Dunkelheit zum Licht, aus der Vergänglichkeit zur Unvergänglichkeit, aus der Welt des ewigen Todes in die Welt des ewigen Lebens führt.