Bischof Hiob von Stuttgart (Bandmann): „Das Christentum nicht abschreiben!“

Interview der UOJ mit Bischof Hiob von Stuttgart über den Schutz des Lebens ungeborener Kinder in Deutschland
In vielen westlichen Gesellschaften steht das Thema Lebensschutz wieder stärker im Mittelpunkt politischer und ethischer Diskussionen. Besonders brisant wird es, wenn religiös motivierte Positionen in rechtspolitische Entscheidungsprozesse einfließen – etwa bei der Nominierung von Verfassungsrichterinnen und -richtern, die sich offen zu einer kritischen Haltung bekennen, was aktuell geltendes Abtreibungsrecht angeht. Die Russisch-Orthodoxe Kirche im Ausland (ROKA) vertritt seit jeher eine klare Position zur Heiligkeit des menschlichen Lebens. Ein Journalist der UOJ in Deutschland sprach mit Weihbischof Hiob über die Stellung der Kirche, die Verantwortung von Christinnen Christen – und über die geistliche Dimension eines gesellschaftlich umstrittenen Themas.
Ihre Exzellenz, Herr Weihbischof, wie definiert die ROKA aus theologischer Sicht den Begriff „Lebensschutz“?
Lebensschutz ist ein juristischer Begriff, ein weltlicher Begriff. Wir beschäftigen uns als Theologen natürlich mit den ethischen Grundlagen der Gesetzgebung und dazu muss man wissen, dass die westlichen Demokratien ihren Gesetzen nicht direkt auf christlichen Werten basieren, sondern auf aufklärerischen, die wiederum auf christlichen Werten beruhen.
Das heißt, es gibt keinen direkten Zugriff auf etwa biblische Gebote oder desgleichen, sondern auf der etwas wagen Definition der Menschenrechte. In der Bibel ist klar, dass Gott derjenige ist, der das Leben gibt und auch das Recht hat das Leben zu nehmen.
Den Menschen ist es nicht erlaubt das Leben zu nehmen, das Blut anderer zu vergießen.
Tiere sind eine andere Geschichte. Da ist die Gesetzgebung der postmodernen Staaten manchmal übertrieben und geht teilweise an biblischen Vorbildern vorbei. Denn die Tatsache, dass der Mensch zum Beispiel Fleisch isst, ist in der Bibel ganz normal und erlaubt.
Danke. Ab wann, denken Sie, beginnt das menschliche Leben aus der Sicht der Orthodoxie?
Das ist in gewisser Weise eine Fangfrage, da in früheren Zeiten der Mensch nie genau wusste, was genau im Mutterschoß geschieht - erst dann, wann von außen etwas wahrnehmbar wurde, wie etwa ein Herzschlag, der größer werdende Bauch der Mutter oder sonst etwas, was man spüren konnte, wusste man, dass da ein Leben überhaupt vorliegt.
Daher ist eines den ältesten moralischen Grundsätzen der Christenheit, die Abtreibung mit Mord gleichzusetzen.
Abtreibung bedeutet jede Form von Unterbrechung dieses Zyklus. Heute streiten sich die Theologen darüber, worauf sich das Leben beziehen lässt, sie wollen ziemlich genau wissen, ab wann das Ei befruchtet ist und ab wann Potenzial auf Leben besteht, aber ich finde es sehr müßig, da aus christlicher Sicht irgendeine Grenze zu setzen, ob ab dem 8. Tag oder erst nach 3 Wochen, da wir das Leben somit missachten oder geringschätzen.
Ich würde sagen, wenn wir schon so genau sehen und beobachten können, dann ist ja jeder Versuch, einzugreifen und das bereits entstehende Leben zu nehmen, eine Sünde. Es ist ein Versuch, zu töten.
Gehören dann gemäß dieser Logik auch Verhütungsmittel zu dieser Kategorie?
Wenn es um die Verhütung geht, unterscheiden sich die Ansichten der orthodoxen Kirche von der römisch-katholischen Kirche. Die römisch-katholische Kirche ist dafür bekannt, dass sie ganz strikt gegen die Verhütung mit Kondome und auch über die Pille ist. Mit einem Argument, was die Orthodoxie nicht nachvollziehen kann: dass die Liebe zwischen Mann und Frau nur dann von Gott gesegnet ist, wenn dort potenziell ein Menschenleben entstehen kann, dass Geschlechtsverkehr nur dazu da ist, sich fortzupflanzen, Kinder zu zeugen und alles andere ist Sünde. Geschlechtsverkehr, um die Liebe zu pflegen, um Spaß zu haben, zählt die katholische Kirche als Sünde.
Auch wenn wir in der Orthodoxie keine festgeschriebene ethische Lehre dazu haben, ist der Konsens unter orthodoxen Theologen, dass Verhütung durchaus angebracht ist im Rahmen einer Familienplanung und dass Liebe, geschlechtliche Liebe viel mehr ist als das Zeugen von Kindern.
Ihre Exzellenz, wie steht die ROKA zu Frauen, die in Konfliktsituationen ein Schwangerschaftsabbruch in Erwägung ziehen oder bereits hinter sich schon haben?
Die sogenannte Russisch-Orthodoxe Sozialdoktrin (ein Dokument aus dem Jahre 2001, das erste Dokument dieser Art, welches sich mit solchen Fragen in der gesamten Orthodoxen Kirche befasst bzw. regelt), besagt, dass die Kirche natürlich nicht darüber hinwegsehen kann, dass Schwangerschaftsabbruch nach dem alten und heute noch geltenden Kirchengesetz als Mord gilt und als solches Töten bedeutet, dass sie aber gleichzeitig die Menschen dahinter, die Schicksale der Frauen ernst nimmt und dass dementsprechend diese Sünde anders kategorisiert, anders bewertet wird als die Sünde von jemanden, der vorsätzlich oder aus irgendwelchen unmoralischen Gründen abtreibt.
Dementsprechend wird dann der geistliche Vater oder der Beichtvater sich mit der jeweiligen Situation beschäftigen und aufklären, beispielsweise was für eine Buße diese Frau (oder dieser Mann) auferlegt bekommt, was natürlich nicht gleichzusetzen ist mit jemandem, der vorsätzlich getötet hat. In der Kirche gibt es den Satz, „Abtreibung ist gleich Mord“, wodurch die dementsprechende Buße auferlegt werden müsste, und ich finde es gut, dass die Russisch-Orthodoxe Kirche und andere orthodoxe Kirchen dies differenzierter sehen.
Danke, Eure Exzellenz. In säkularen Gesellschaften wird betont, dass Staat und Kirche getrennt agieren müssen. Welche Rolle sollte dann die kirchliche Ethik im öffentlichen Diskurs zur Abtreibung annehmen? Was denken Sie dazu?
Diese Trennung von Staat und Kirche ist keine komplette Trennung. Natürlich orientiert sich oft die Gesetzgebung oder das oberste Gerichtshof in Deutschland auf den ethischen Grundsätzen der Gesellschaft, diese wiederum werden durch den christlichen Glauben formuliert, vorgegeben, der, Gott sei Dank, noch die Mehrheit in Deutschland ausmacht.
Natürlich, je mehr der Einfluss des Christentums schwindet, je mehr, wie wir leider beobachten, hier historisch ansässige Konfessionen sich von ihren eigenen moralischen Grundsätzen abwenden, insbesondere die evangelische Kirche, die heute leider kein Träger des Evangeliums, sondern eher das Gegenteil ist - je mehr das passiert, umso mehr ändert sich die Gesetzgebung, desto mehr fühlen sich die Gesetzgeber einer liberalen und libertären Agenda verpflichtet und meinen, sie müssten da überall die Anforderungen herabsetzen.
Da wir bereits diese Richtung eingeschlagen haben, möchte ich Ihnen gerne dazu eine Frage stellen. Es wird gerade viel über die Ernennung der Verfassungsrichterin diskutiert, die das geltende Abtreibungsrecht als, Zitat: „grundlegend problematisch“, bezeichnet hat. Wie würden Sie solche Entwicklungen bewerten, Exzellenz?
Ja, das ist ein Zeichen der Zeit, bzw. der Entwicklungen, die wir überall beobachten. In der Gesellschaft und folglich auch in der Gesetzgebung werden die moralischen Standards aufgeweicht und verändert, während das Christentum nimmt eine immer kleinere Rolle ein.
Es nimmt seine Verantwortung selber nicht mehr wahr, die moralischen Werte bzw. moralischen Grundsätze vorzuleben oder zumindest zu verkünden. Das heißt, es ist keine Partei schuld, noch irgendeine Person, die ähnliche Ansichten hat und gewiss auch mit ihnen aufgewachsen ist und somit aus einer Grundüberzeugung handelt, sondern wir Christen sind in irgendeiner Weise mitschuldig, insbesondere die Kirchen, wenn wir nicht klar machen, was die Botschaft Christi eigentlich ist und immer schon war.
Das ist tatsächlich eine sehr gute Zusammenfassung, denn die nominierte Kandidatin fühlt sich eher in ihrer Person angegriffen und einer Hetzkampagne ausgeliefert, was manchmal tatsächlich danach aussehen kann. Aber wie Sie es richtig bemerkt haben, ist die gesamte Gesellschaft an dieser Entwicklung mitschuldig sowie konkrete Institutionen wie Kirchen und andere Akteure. Nächste Frage an Sie, Eure Exzellenz: Kritiker befürchten, dass mit solchen Ernennungen eine schleichende Rückkehr zu restriktiven Gesetzen drohen könnte. Was entgegen Sie denen?
Ich persönlich bin eher positiv überrascht gewesen davon, dass die Christdemokraten doch dem Druck von konservativen Christen in unserer Gesellschaft nachgegeben haben und nicht einfach nur klassische Parteipolitik gemacht haben im Sinne von „gib mir das und ich gebe dir das“, sondern tatsächlich auf diese Debatte eingegangen sind. Genau das finde ich gut und wichtig, dass man darüber nachdenkt als Gesellschaft, wen wir ins den obersten Gerichtshof entsenden.
Wir alle haben gesehen, wie das politische Pendel bei der letzten Wahl hier in Deutschland nach rechts geschwungen ist, weil ein Großteil der Bevölkerung nicht mit diesen extremlinken Positionen bestimmter Parteien mitgehen kann. Es ist unrealistisch und unverständlich was da der Gesellschaft aufgedrückt wird.
Deshalb bin ich froh. Hut ab und Gott sei Dank, dass sich Stimmen erhoben haben und versucht haben, da Einfluss zu nehmen. Wir befinden uns nämlich, vielleicht noch etwas weniger wie in Amerika, in einem gewissen politischen Polarisierungsprozess, in einem gesellschaftlichen Konflikt zwischen links und rechts, zwischen konservativen Werten und dieser neuen Ethik und neuer sozialen Gerechtigkeit, wie sie genannt wird, wo ein Baum zum Teil mehr wert ist als ein Mensch oder Tiere mehr Rechte haben als die Menschen. Ich überspitze es hier natürlich, aber jeder versteht sicherlich, worum es geht.
Deshalb glaube ich, dass es eine Möglichkeit gibt, dass dieses Pendel wieder zurückschlägt und in die andere Extreme geht.
Beispielsweise werden die Einwanderungsgesetze in den USA z.T. überzogen strenger, und es gibt mehr, was in die andere Richtung ausschlagen kann. Das gibt es natürlich auch hier. Da sind wir als Vertreter der konservativen Seite dazu verpflichtet, darauf zu achten, dass wir nicht in Extremen geraten.
Vielen Dank für diese differenzierte Antwort auf meine Frage. Es kann tatsächlich viel zu weit nach rechts gehen und darüber machen sich in der Tat viele Geister Gedanken. Jetzt aber zurück zu praktischen Fragen: wie engagiert sich die ROKA konkret im Lebensschutz, wie unterstützen Sie die Frauen in Not? Arbeiten Sie zusammen mit anderen Lebensschutzorganisationen oder mit anderen Konfessionen in diesem Bereich?
Eine Sache gilt als erstes hervorzuheben, und zwar dass orthodoxe Christen, vor allem Jugendliche, ganz vorne dabei sind bei Demonstrationen zum Schutz von Leben. In Berlin, in München und in anderen Städten Deutschlands finden diese jährlich teilweise auch häufiger statt, die sogenannten Märsche für das Leben. Unsere Gläubigen und auch unsere Priester nehmen daran regelmäßig teil und nehmen die Sache sehr ernst. Es ist ein besonderes Anliegen unserer Glaubensgemeinschaft.
Abgesehen davon, sind wir in der Diaspora, aber auch in unseren Heimatländern, weniger spezialisiert in Lebensschutzorganisationen für Frauen in Not, denn wir legen mehr Wert auf eine pastorale, seelsorgerische Arbeit, die von den Ortspriestern unternommen wird. Solche Situationen, mit denen man individuell umgehen muss, fordern keine Spezialisten, die darin geschult sind, Frauen zu beraten, die ungewollt schwanger geworden sind.
Ich würde das nicht irgendwie negativ sehen, sondern positiv, da wir immer den ganzen Mensch betrachten, und wenn ein Mensch ein spezifisches Problem hat, zeugt es eher davon, dass sein insgesamter Seelenzustand nicht in Ordnung ist und daher vom Priester als Ganzes und nicht nur als ein Teilproblem betrachtet werden muss.
Wäre es richtig, zu verstehen, dass die beratende Person auch gleichzeitig ein Wertevertreter sein muss und nicht nur eine Person, die nur formalistisch ihre Beratungen ausführt?
Ja, Wertevertreter ist ein gutes Stichwort. Unsere Priester (meistens, da es auch noch die Mönchspriester gibt).
Und abschließend Ihre Exzellenz, wenn Sie ein geistliches Wort an Frauen, Männer, politische Entscheidungsträger aber auch Kritiker der kirchlichen Positionen richten könnten, was wäre Ihre Botschaft?
Speziell hier in Deutschland wäre meine Botschaft, das Christentum nicht abzuschreiben, denn wer das Christentum ernst nimmt und es nicht nur als kulturelles Erbe betrachtet, wird auch die Zukunft richtig gestalten können.
Vielen Dank, Eure Exzellenz, für Ihre Zeit und für ein sehr spannendes Interview!
Ich bedanke mich ebenfalls. Gott segne euch.



