Das Kreuz – ein Zeichen dafür, dass wir noch nicht ganz Christen sind

Wiktor Wasnezow. „Der gekreuzigte Jesus Christus“. Foto: Wikimedia

Warum ist das so? Ganz einfach. Wir sind (noch) keine Christen, weil wir an unseren Körper, unsere Gesundheit, unsere Welt gebunden sind. Weil wir viel mehr an das Irdische denken als an das Himmlische. Weil wir Angst vor der Zukunft haben und im Grunde Sklaven unseres Fleisches und unseres sündigen Verstandes sind. Wenn jemand diese Zeilen liest und sagt: „Das trifft nicht auf mich zu. Meine Gedanken sind ganz bei Gott. Ich bin frei von Bindungen, mache mir keine Sorgen, verurteile niemanden, und ich warte mit freudiger Erwartung auf meine letzte Stunde“, dann freue ich mich für ihn. Aber über mich selbst kann ich das leider nicht sagen.

Das Kreuz Christi ist nicht nur das Banner unseres Heils. Es ist auch ein Symbol für das, was unser Herz werden soll. Das Kreuz ist vor allem ein Zeichen der Geduld. Von unerschütterlicher Standhaftigkeit in den schwierigsten Lebensumständen. Der Weg ins Himmelreich ist mit den Pflastersteinen der Geduld gepflastert – und mit nichts anderem. „Wenn wir wünschen, als Sieger anerkannt und gekrönt zu werden, dann opfern wir uns selbst“, schreibt der hl. Isidor von Pelusium.

Das Kreuz bedeutet auch persönliche Verantwortung für unser Heil. Ob wir sie auf uns nehmen oder nicht – das ist unsere Entscheidung. Man kann sein Kreuz tragen oder sein ganzes Leben lang davor weglaufen. Das Kreuz ist Buße und Gebet – und die Bereitschaft, vor dem Tod zu sterben: zu sterben für alles, was uns an das Irdische bindet.

Das Kreuz bedeutet, unsere eigene Sündhaftigkeit durch aufrichtige Buße und Gebet zu überwinden sowie vollständig von allen irdischen Bindungen und selbst von Gedanken an das Irdische abzurücken. Wenn wir ständig beten, aber an der Welt hängen bleiben, dann sind wir noch weit entfernt von der evangelischen Lebenspraxis. Um ein geistliches Wesen zu werden, müssen wir aufhören, Sklaven unseres Fleisches und unseres sündigen Verstandes zu sein. „Wenn jemand bemerkt, dass sein Denken sich nach Reichtum und Besitz sehnt, so soll er erkennen, dass seine Denkweise fleischlich ist – und dies möge ihm ein Grund zur Umkehr sein“, so der hl. Gregor Palamas.

Derjenige, der seine Seele „bewahrt“, ist der, der sich nicht von seinen Bindungen lösen will, der Angst hat, den Kampf um die Reinheit der Seele gegen die sündige Besessenheit seines Geistes aufzunehmen, dem es nicht einmal in den Sinn kommt, sich von seinen leeren und lügnerischen Gedanken zu trennen. Er ist wie ein unkluger Wanderer, der im Moor versinkt, weil er den falschen Weg gewählt hat.

Derjenige, der seine Seele um Christi willen „verloren“ hat, hat sich für immer von irdischen Bindungen losgesagt, er hat furchtlos den Kampf um die Heiligkeit begonnen, stellt sich dem Bösen in sich selbst entgegen und reinigt entschlossen seinen Verstand von lasterhaften Gedanken. Er strebt nach der göttlichen Liebe in Christus und bewahrt so seine Seele – wie ein mutiger und weiser Krieger Christi, der sich dem himmlischen Heer anschließt. Ein bekanntes Sprichwort vom Berg Athos sagt: „Wenn du stirbst, bevor du stirbst, wirst du nicht sterben, wenn du stirbst.“ Für diesen Menschen wird das Heil zur Lebensaufgabe seiner Seele. „Darum muss er die Höhe des Kreuzes besteigen, um nicht von dem, der daran gekreuzigt ist, abzufallen“, sagt der hl. Gregor Palamas.

Christus folgt derjenige, der bewusst und ohne Zwang seine endgültige Entscheidung getroffen hat: Wohin soll man ohne Christus gehen, wenn Er der einzige wahre Gott und vollkommene Mensch ist? Ihm folgen die, die das Heil suchen und Ihm ihre Seele freiwillig und von Herzen übergeben. Die Hauptregel auf diesem Weg lautet: „Verleugne dich selbst.“ Diese Selbstverleugnung muss vollständig sein, nicht teilweise, bis hin zu einer schonungslosen Zerknirschung über die eigene Sündhaftigkeit. Wenn wir hoffen, in der Zukunft das Heil zu finden und Christus zu begegnen, ohne es schon jetzt zu suchen, dann sind wir noch keine Praktiker des Evangeliums.

Ein Praktiker des Evangeliums lehnt alle Leidenschaften ab, wird vollkommen leidenschaftslos und beginnt, im Heiligen Geist zu leben – ohne dies für unmöglich zu halten. Er verzichtet auf alle weltlichen Wünsche und erkennt sich selbst in der Welt und im Geist Christi als sein wahres Erbe. Er verzichtet auf seine Gedanken, Urteile und Spekulationen und tritt so in das Reich der ewigen Wahrheit ein, das er als seine ursprüngliche Heimat erkennt. Er nimmt sein Kreuz auf sich – akzeptiert ohne Murren alle Folgen seiner Sünden, um sie durch Buße endgültig zu sühnen. Er folgt dem Weg, den ihm die göttliche Vorsehung bestimmt hat, und geht Christus nach, bis zur vollständigen Gleichgestaltung mit Ihm.

Geduld ist kein passives Erdulden oder sinnloses Gleichgültigsein. Sie ist eine tiefbewusste Annahme der göttlichen Vorsehung als weise Wille Gottes. Geduld soll so erlernt werden, dass sie uns das ganze Leben begleitet. In der Geduld liegt eine gewaltige Kraft, wie ein unerschütterlicher Fels, der unter den Schlägen der Meereswellen steht. Jedes Unwetter, jede Aggression vergeht, aber die Geduld bleibt wie ein starker Felsen bestehen.

Wenn wir die weise Geduld erlernen, wird sie uns helfen, aus den Begrenzungen des irdischen Lebens auszubrechen. Wer Geduld erlangt hat, erhält die Demut als göttliche Gabe, die die Seele zum Heil führt. Wer das irdische Leben geduldig erträgt und sein Kreuz bis zum Ende trägt, wird durch Gottes unermessliche Barmherzigkeit gerettet. „Das geduldige Ertragen der von Gott gesandten Leiden ist das eigene Kreuz“, so der hl. Ignatius Brjantschaninow.

Heil ist ein unbeschreiblicher Bewusstseinszustand in Christus, der durch den Heiligen Geist verwandelt ist. Es ist eine allumfassende Erkenntnis Gottes, die jenseits unserer begrenzten Vorstellungen liegt. Sie ist nur sich selbst gleich und kann nicht mit menschlichen Begriffen beschrieben werden – ein unaussprechlicher göttlicher Bewusstseinszustand.

Christus, der Gott und Mensch ist, litt am Kreuz als Mensch, blieb aber als Gott völlig frei von Leid. Durch Sein ehrwürdiges Kreuz schenkte Er uns den Sieg über das Fleisch und die Welt. Er hinterließ uns die körperlichen Leiden und die Sorgen für unsere Nächsten, verlieh uns jedoch die ewige Freiheit des menschlichen Geistes, verwandelt durch die Gnade, ganz ähnlich der Göttlichkeit der Heiligsten Dreifaltigkeit. Darin liegt das große Geheimnis des Heils und der göttlichen Ökonomie.

Heil bedeutet nicht, von der Erde in den Himmel zu fliehen, sondern Gott hier und jetzt auf Erden zu erkennen und sich vollkommen mit Ihm zu vereinen. Heil bedeutet die direkte Erkenntnis der Wahrheit und Befreiung von allen Täuschungen. „Die Wahrheit ist die unerschütterliche Erkenntnis des Seienden“, sagt der hl. Ephraim der Syrer. Heil bedeutet Freiheit von der Welt – ja, sogar ein Hinausgehen über das Paradies hinaus. Das Ziel ist nicht nur das Erreichen des Paradieses, sondern die vollkommene Vereinigung mit Christus und das Eintreten in das unerschaffene Licht der Heiligsten Dreifaltigkeit. „Dich, o Herr, sollen wir suchen statt allem anderen und außer Dir nichts suchen. Denn wer Dich sucht, findet in Dir alles“, sagt der hl. Ephraim der Syrer.

Die Welt ist die Wohnstätte der Unwissenheit und der Täuschung. Das Paradies ist der Ort, an dem Engel und heilige Seelen weilen. Die Welt ist die Wiege des Wachstums in der Heiligkeit. Die himmlischen Wohnstätten sind deren unaussprechliche Frucht. Und die eigentliche Aufgabe der Kirche besteht darin, uns zu himmlischen geistlichen Wesen in der ganzen Fülle des Heiligen Geistes zu machen – und nicht zu vergänglichen Bewohnern der Erde, gebunden an das vergängliche Leben. „Der Haushalter unseres Heils führt uns, die wir in der Finsternis aufgewachsen sind, in das große Licht der Wahrheit, gewöhnt uns langsam daran, indem Er unsere Schwäche schont“, sagt der hl. Basilius der Große.

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