Gott zu kennen bedeutet nicht, etwas über Gott zu wissen

Unsere Fantasien über Gott sind nicht Gott. Foto: UOJ

Das Hohepriesterliche Gebet ist eine meiner Lieblingsstellen aus der Heiligen Schrift. Wir lesen es an diesem Sonntag in der Liturgie. Es geht um unsere Einheit mit Gott, um Freude und um Liebe. Genau darum, was der Seele am meisten fehlt und wonach sie am meisten strebt.

Ewiges Leben, wie der Erlöser es selbst verkörperte, ist die Erkenntnis des einen wahren Gottes und des von ihm gesandten Jesus Christus. Doch was ist das für eine Erkenntnis? Nach unserem Verständnis ist Wissen die Summe der Vorstellungen darüber, was in theologischen Bildungseinrichtungen gelehrt wird. Aber fragen Sie doch mal Ärzte. Kann bei all dem Wissen, das uns die heutige Medizin bietet, überhaupt ein Wissenschaftler sagen, was ein Mensch ist? Wir können die unterschiedlichsten Mechanismen seiner Lebenstätigkeit, die Funktionen der inneren Organe usw. beschreiben, aber was ist der Mensch im Wesentlichen? Niemand weiß es. Was ist Persönlichkeit, wie unterscheidet sie sich von Individualität? Was ist menschliches Bewusstsein und wo befindet es sich? Doch der Mensch ist ein frei zugängliches Objekt der Forschung und des Studiums, im Gegensatz zu Gott, dessen Wesen selbst den höchsten Engeln unzugänglich ist.

Doch reduziert sich „Gotteserkenntnis“ für uns auf die rationale Analyse heiliger bzw. patristischer Texte, die Schlussfolgerungen der Logik und die intellektuelle Interpretation des untersuchten Materials. Ist dies die Erkenntnis Gottes, von der Christus im Hohepriesterlichen Gebet spricht? Definitionen, Konzepte mit vielfältigen Bedeutungsnuancen und individueller Wahrnehmung sind endlose, dunkle Labyrinthe, durch die eine vom Egoismus geblendete Seele irrt.

Ewiges Leben setzt nicht die Kenntnis von Worten über Gott voraus, sondern die Erkenntnis Gottes selbst. So wie die Eheschließung zwischen Mann und Frau nicht durch das Studium von Büchern über Anatomie und Psychologie erfolgt, sondern im unmittelbaren persönlichen Kontakt. Dies ist Kommunikation von Angesicht zu Angesicht. Erst dann beginnt Gott, sich uns auf eine Weise zu offenbaren, die wir verstehen und in dem Maße, wie wir ihn aufnehmen können.

Ein geistlich Praktizierender unterscheidet sich von einem theologischen Theoretiker dadurch, dass ersterer betet, während letzterer über Gott spricht. Der Praktizierende ist in innerer Stille versunken, während der Theoretiker in äußerer Eitelkeit versunken ist. Ersterer schweigt die ganze Zeit, während letzterer unaufhörlich redet. Der Praktizierende versteht, dass das Verlassen der Welt, die im Bösen liegt (1. Johannes 5,19), bedeutet, die Welt der Gedanken, die Hölle der Begierden, zu verlassen und in das Leben des Geistes einzutreten, das von Gnade lebt. Der Theoretiker stürzt sich kopfüber in eine Welt grausamer Konflikte und deprimierender Lebensbedingungen, er hat keine Zeit zum Beten, sein ganzes Leben verbringt er in erschöpfender Eitelkeit und Sorgen. Gleichzeitig verbringt er Jahrzehnte im Kirchengelände und vielleicht im Priesteramt, ohne die Früchte des Heiligen Geistes in seiner Seele zu sehen und keinen Tropfen Gnade zu erfahren. Dennoch glaubt er aufrichtig, Gott zu dienen. Der Praktizierende, der gleichzeitig ununterbrochen im Heiligen Geist verweilt, ohne jegliche geistige Regung, erfüllt seine Seele mit Gnade, rettet sich selbst und schützt die ganze Welt mit dem geistigen Schild des unaufhörlichen Gebets.

Die meisten Menschen, die sich als Experten im Bereich der Religion betrachten, ahnen nicht einmal, dass all ihre Vorstellungen von Gott nichts weiter als Fantasie und Erfindungen ihres eigenen Geistes sind.

Unsere Fantasien über Gott sind nicht Gott, sondern nur ein Götzenbild, das unser egoistisches Denken in unseren Köpfen errichtet. Gotteserkenntnis erfordert vor allem die Gegenwart dessen, was uns Gott ähnlich macht. Das, was die Möglichkeit der Erkenntnis Gottes überhaupt erst eröffnet. Das heißt, zuerst muss der Mensch die Gnade des Heiligen Geistes erlangen und erst dann Gott in dieser Gnade erkennen. Die Gegenwart der Gnade hängt nicht von intellektuellen Fähigkeiten oder geistigem Potenzial ab. Sie ist einzig und allein an der Reinheit des Herzens und der Demut der Seele interessiert.

Die Trugbilder der Schultheologie brechen unmittelbar nach dem Tod zusammen, der die Hülle unserer zerbrechlichen menschlichen Gottesvorstellungen zerbrechen lässt. Denn all diesen Schlussfolgerungen liegt die Grundlage stolzer Wahnvorstellungen zugrunde, vermischt mit Unwissenheit und dem Verlust des Lebenssinns.

Dann werden wir verstehen, dass es ohne Gott keine „individuelle Existenz“ gibt und nicht geben kann, und dass das, was wir für Gott hielten, eine egoistische Lüge und selbst ausgeklügelte Fantasien sind.

Ein Sportkommentator fängt die kleinsten und scheinbar unbedeutendsten Ereignisse im Zusammenhang mit dem Sport ein. Ein Fischer weiß genau, wo, wann und wie man am besten Fische fängt. Ein Koch kennt die Geschmacksnuancen und Zubereitungsmethoden bestimmter Produkte. Ein Theologe kennt alle Besonderheiten des biblischen Textes und seine Auslegung in anderen Sprachen. Er kann erklären, wie diese oder jene Passage der Heiligen Schrift von den Heiligen Vätern in verschiedenen Epochen und bei verschiedenen Völkern verstanden wurde. Jeder der Spezialisten wird all dieses Wissen hier auf Erden hinterlassen, da es im Jenseits nicht mehr benötigt wird.

Und nur wer seinen Geist sorgfältig beobachtet, ihn im Herzen sammelt und nicht zulässt, dass seine Gedanken zerstreut werden und um die Welt kreisen, wird das Ziel erreichen, für das er auf diese Welt gekommen ist. Der Theoretiker kennt den Unterschied zwischen Manichäern und Mandäern, Borboriten und Bonifratern. Doch er wird vielleicht nie die Zärtlichkeit erfahren, die eine einfache, ungebildete Großmutter erfährt, die weinend und betend vor einer schlichten Papierikone der Mutter Gottes steht. So manches Wissen ersetzt anderes, doch nur die Gnade Gottes bleibt unverändert und ewig. Alles, was in dieser Welt geboren wird, veraltet früher oder später und stirbt; allein Gott bleibt ewig jung. Freude und Liebe, aufgelöst mit Trauer und Barmherzigkeit, ziehen Gottes Barmherzigkeit an, die im Herzen aufrichtiges Wohlwollen und Mitgefühl für alle Menschen ohne Ausnahme entstehen lässt. So tritt Gnade in die Seele ein und kommt Freude im Heiligen Geist zum Vorschein. 

In solch mitfühlender Liebe erwacht und verwandelt sich unser Geist. Ein liebendes Herz teilt die Welt nicht mehr in Freund und Feind, in diejenigen, die an Gott glauben, und diejenigen, die ihn verleugnen. Es weint um jeden Menschen und kann die Welt nicht ohne Tränen in Sünden versinken sehen. Leider gibt es immer mehr Fachleute im Bereich der Religion in der Kirche.

Das Bildungsniveau, das Wissen, die Fähigkeiten und Fertigkeiten von Seminaristen und Studierenden theologischer Akademien steigen jedes Jahr. Doch aus irgendeinem Grund beten immer weniger Menschen für die ganze Welt.

Einfachheit, Bescheidenheit und Demut werden seltener. Lebendiges Wasser wird nie aus theologischen Büchern und wissenschaftlichen Artikeln fließen. Es wird in lebendigen und gütigen Herzen getragen. Der Geist eines gelehrten Theoretikers ist erfüllt von Wissen, und das Herz eines Praktizierenden ist erfüllt vom süßen Nektar des Heiligen Geistes. Anderen zu sagen, wie sie sich selbst retten können, ist immer leichter, als sich selbst zu retten.

Unser Ziel ist nicht Wissen, sondern Freude an Gott und Einheit mit Ihm. Und durch Ihn – mit der ganzen Welt Gottes. Christus betet ja nicht für die ganze Welt zum Vater, sondern für die Seinen, die der Vater ihm gegeben hat.

Und wer sind wir? Gehören wir zu denen, für die Christus betet? „Daran werden alle erkennen, dass ihr meine Jünger seid: wenn ihr Liebe untereinander habt“ (Johannes 13,34-35). Nur daran können wir unsere Zugehörigkeit zum Christentum messen. Wenn es auch nur einen Menschen auf der Welt gibt, dem du feindselig gegenüberstehst, wird dir der Zugang zum Reich Gottes verschlossen bleiben. Wenn du ein ganzes Volk hasst, werden dir die Pforten der Hölle freudig ihre Türen öffnen. Und dort, in dieser Dunkelheit, diesem Gestank und diesem Leid, kannst du dich ewig fragen: „War mein Hass in diesem kurzen Erdenleben es wert, gegen endlose Qualen eingetauscht zu werden?“

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