Nicht Magie, sondern Glaube: Der christliche Kodex des „Herrn der Ringe“
Der Kampf zwischen Licht und Dunkelheit – Tolkiens Philosophie. Foto: UOJ
Oft denken wir, dass Fantasy ein schönes Märchen ist, in das man vor der beängstigenden Realität flüchten kann. Wir glauben, dass Geschichten über Elfen und Drachen von Träumern geschrieben werden, die sich vor dem Leben verstecken. Im Fall von John Ronald Reuel Tolkien war jedoch genau das Gegenteil der Fall.
Dieses Buch entstand in der Hölle. Im November 1916 kam der junge Leutnant Tolkien in ein Militärkrankenhaus. Er litt an „Trench Fever“ – Fleckfieber, das von Läusen in den schmutzigen Schützengräben des Ersten Weltkriegs übertragen wurde. Er lag im Fieberwahn, zitterte und neben ihm starben Menschen. Er hatte gerade zwei seiner besten Freunde in der Schlacht an der Somme verloren.
Und dort, auf zerknüllten Fetzen von Papier, begann er mit zitternder Hand die ersten Entwürfe seiner Mythologie zu schreiben.
Die toten Sümpfe, durch die die Helden seines Buches zum Feind kriechen, sind keine Fantasie. Es ist eine Landschaft, die Tolkien nach einem Artillerieangriff mit eigenen Augen gesehen hat. Deshalb findet „Der Herr der Ringe“ heute so großen Anklang bei uns. Es ist kein Märchen. Es ist eine Chronik des Überlebens der menschlichen Seele inmitten einer Katastrophe. Wir erkennen uns in diesen verängstigten Helden wieder, die einfach nur in ihren warmen Häusern Tee trinken wollten und sich stattdessen im Epizentrum des weltweiten Bösen wiederfanden.
Worum geht es in dieser Geschichte?
Wenn man Schwerter und Magie weglässt, ist die Handlung erschreckend einfach. Das absolute Böse – Sauron – ist in der Welt erwacht. Er will das blühende Land in ein Konzentrationslager verwandeln. Für den vollständigen Sieg fehlt ihm nur noch eine Kleinigkeit – der Ring der Macht. Dieser ist kein Schmuckstück, sondern die Verkörperung seines Willens und seiner Kraft.
Und diese schreckliche Waffe gelangt in die Hände des harmlosesten Wesens der Welt – des Hobbits Frodo. Hobbits sind ein „kleines Volk“, so groß wie Kinder, sie lieben das Land, das Essen und die Ruhe. Sie sind keine Krieger.
Die Tragödie besteht darin, dass der Ring nicht gegen den Feind eingesetzt werden kann – es ist selbst böse und versklavt jeden, der es trägt.
Es kann nicht versteckt werden. Es kann nur im Feuer des Berges zerstört werden, in dem es geschmiedet wurde. Und dieser Berg befindet sich im Zentrum des Landes des Feindes, in Mordor.
Der kleine Frodo nimmt diese Last auf sich. Zusammen mit seinem treuen Freund Sam geht er zu Fuß durch die ganze Welt, direkt in den Rachen des Ungeheuers, um den Ring zu verbrennen. Es ist eine Selbstmordmission. Sie haben keine Chance aufs Überleben. Aber sie gehen.
Warum das Böse nicht schaffen kann
Wenn wir die Nachrichten sehen, wenn wir zerstörte Häuser sehen, wird uns körperlich kalt. Das Böse scheint riesig, kreativ und erfinderisch zu sein. In Tolkiens Buch scheinen die Armeen der Dunkelheit unendlich zu sein.
Aber wenn wir genauer hinschauen, sehen wir ein tröstliches Detail.
In Tolkiens Welt ist das Böse steril. Es hat keine kreative Kraft.
Die Orks – die furchterregenden Soldaten des Feindes – sind kein neues Volk. Es sind Elfen, die einst entführt, gefoltert und verstümmelt wurden. Die Trolle sind eine böse Parodie auf die Ents (die guten Baumriesen).
Tolkien, ein tiefgläubiger Mensch, hat hier die wichtigste christliche Hoffnung verarbeitet: Das Böse hat keine eigene Lebensquelle. Es ist immer ein Parasit. Satan ist der „Affe Gottes“. Er kann nichts Neues erschaffen, er kann nur zerstören, zerreißen und beschmutzen, was der Schöpfer geschaffen hat.
Für uns bedeutet das eines: Die Dunkelheit ist zweitrangig. Sie existiert nur dank gestohlenem Licht. Sie ist furchterregend, laut, aber sie hat keine Wurzeln in der Ewigkeit. Sie ist ein Koloss auf tönernen Füßen.
Die Kraft liegt in der Schwäche
Die zweite Lektion, die wir zwischen den Zeilen lesen, ist eine Hymne an den „kleinen Menschen“. Warum wurde die Rettung der Welt nicht den Starken anvertraut? Warum trägt nicht der weise Zauberer Gandalf oder der mächtige König Aragorn den Ring?
Weil Macht die größte Falle ist. Ein großer Held, der eine solche Macht erhält, würde mit Sicherheit mit eiserner Hand „für Ordnung sorgen“ wollen. Und er würde selbst nicht merken, wie er zu einem neuen Tyrannen geworden ist. Stolz ist eine offene Tür für das Böse.
Die Last wird Frodo anvertraut – einem schwachen, halbverhungerten Zwerg, der vor Angst weint und sich die Füße blutig läuft.
Hier offenbart Tolkien eine biblische Wahrheit: „Meine Kraft wird in der Schwachheit vollkommen“ (2 Kor 12,9).
Gerade die Schwäche von Frodo und seinem Diener Sam wird zu ihrer wichtigsten Rüstung. Sauron, der nur die Sprache der Macht und Herrschaft versteht, hat einen blinden Fleck. Er kann einfach nicht glauben, dass jemand den Ring tragen würde, nicht um Herrscher zu werden, sondern um ihn zu zerstören. In seiner Weltanschauung ist Demut Dummheit. Er erwartet eine Armee, doch gegen ihn ziehen zwei müde Wanderer.
Heute fühlen wir uns genauso wie diese „Hobbits“. Wie Sandkörner, die von der Geschichte zermalmt werden. Wir denken: „Ich bin ein Niemand, ich kann nichts ändern.“ Aber diese Geschichte stellt uns vor Augen, dass gerade in unserer Menschlichkeit, in unserer Weigerung, als Antwort auf Grausamkeit selbst grausam zu werden, liegt eine Kraft verborgen, die das Böse nicht einschätzen kann.
Frodos Waffe ist kein Schwert. Seine Waffe ist Mitleid. Er hat Mitleid mit dem abscheulichen Wesen Gollum, das sie verfolgt. Und am Ende ist es genau dieses Mitleid, das die Welt rettet.
Brot, das den Willen stärkt
Es gibt eine Stelle in dem Buch, die einem das Herz zusammenziehen lässt. Lembas. Elfenbrot für unterwegs. Als die Helden sich der Hölle nähern, geht ihnen die normale Nahrung aus. Das Wasser ist vergiftet. Die Luft ist giftig. Sie haben keine körperliche Kraft mehr, um einen weiteren Schritt zu tun. Sie überleben nur dank dieses Brotes. Tolkien beschreibt eine erstaunliche Eigenschaft von Lembas: Es schmeckt nicht wie ein Kuchen, aber es „stärkt den Willen”. Je schwächer man ist, desto mehr Kraft gibt es einem.
Für uns Christen ist dieses Bild klar. Lembas ist die Kommunion.
Wir kennen dieses Brot. Wenn unsere menschlichen Ressourcen erschöpft sind, wenn uns die Nachrichten entmutigen und wir uns am liebsten mit dem Gesicht zur Wand hinlegen würden, haben wir den Kelch. Das ist die Ressource, die nicht von Wirtschaft oder Politik abhängt. Es ist die Nahrung, die Kraft zum Leben gibt, wenn es nach allen Gesetzen der Logik keine Kraft mehr geben dürfte.
Ein Stern über der Asche
Und schließlich eine Szene, die die Seele heilt. Sam und Frodo befinden sich im Herzen Mordors. Um sie herum – verbrannte Erde, Asche, absolute Dunkelheit. Es gibt keine Hoffnung. Frodo schläft erschöpft. Sam, ein einfacher Gärtner, sitzt Wache und blickt in den schwarzen Himmel.
Und plötzlich sieht er, wie in einer Lücke zwischen den bleiernen Wolken, hoch über den scharfen Gipfeln der Felsen, für einen Moment ein weißer Stern aufleuchtet.
„Er war beeindruckt von dem Gedanken, dass der Schatten nur etwas Kleines und Vergängliches ist, während es dort oben Licht und hohe Schönheit gibt, die der Schatten niemals erreichen kann.“
In diesem Moment stirbt die Verzweiflung in Sams Seele. Er versteht: Ja, jetzt ist es hier dunkel und schmerzhaft. Ja, das Böse scheint riesig zu sein. Aber es ist nur eine Wolke, die den Himmel verdeckt. Eine Rakete kann einen Stern nicht auslöschen. Schönheit kann man nicht per Dekret töten. Die Wahrheit existiert, auch wenn wir sie jetzt nicht sehen können.
Wir alle sind jetzt dieser Sam Gamji. Wir sitzen in der Dunkelheit. Unsere Aufgabe ist es, den Kopf zu heben. Unser Glaube ist keine Garantie dafür, dass wir keinen Schmerz empfinden werden. Es ist das Wissen, dass über jeder Dunkelheit, über jedem Krieg und jedem Tod immer ein Stern leuchtet. Und er sagt uns leise: „Der Schatten wird vergehen. Das Licht ist ewig.“
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