Philosophische Grundlage des Hesychasmus
In der Sonntagslesung dieser Woche wenden wir uns wieder den Lehren der Hesychastenväter zu. Das Beispiel der blinden Männer, die riefen: „Erbarme dich unser, Jesus, Sohn Davids!“, kann als evangelisches Beispiel für das Jesus-Gebet oder die Beschäftigung des Geistes [russ. „умноe деланиe“, Bezeichnung für die monastische Tradition des immerwährenden Gebetes – Anm. des Übersetzers] bezeichnet werden. Was ist die philosophische Grundlage dieser Tradition?
Nach der einhelligen Lehre der Hesychasten sind der Mensch vor und nach dem Sündenfall zwei verschiedene Wesen. Der grundlegende Unterschied zwischen ihnen hat mit der Funktion des Geistes zu tun. Nach dem Sündenfall verließ die menschliche Vernunft [russ. „ум“ gibt den Sinn des gr. Wortes „nous“ wieder – Anm. des Übersetzers] das geistige Herz und vereinigte sich mit dem Intellekt. Davor war der Verstand das Sehvermögen des Geistes, seine Augen, und er war dazu bestimmt, mit Gott zu kommunizieren und die geistige Welt zu betrachten. Nach dem Sündenfall wurde der Geist geblendet und tauchte in Finsternis.
Es ist für uns heute schwer zu verstehen, wie der Geist anders hätte eingesetzt werden können, denn wir kennen keine andere Existenzform als die, in der wir jetzt leben. Wir wissen nicht, was Kontemplation und direkte Gottesgemeinschaft sind.
Die Abtrennung der Verbindung der Vernunft mit Gott hat zur Verweltlichung und Verdunkelung derselben geführt, der sich mit dem Intellekt vereinigt hat. Vernunft und Intellekt sind im Hesychasmus nicht identische Begriffe. Der Verstand [Intellekt] wurde ursprünglich von Gott dem Menschen gegeben, damit er mit seiner Hilfe die praktischen Probleme des Lebens löst. Doch der Sündenfall führte dazu, dass die Vernunft, indem sie sich an den Intellekt klammerte, begann, auf der Erde herumzukriechen und statt mit Gott mit sich selbst zu kommunizieren. So wurde der Mensch anstelle der Vereinigung mit Gott egozentrisch und selbstsüchtig.
Aber die Vernunft hat sich nicht einfach von einem Bereich des Seins in einen anderen bewegt. Die Dunkelheit ist in sie eingedrungen, sodass sie, anstatt sich in Gottesbetrachtung zu üben, die Welt um sich herum mit Gier und Lust betrachtet und mit ihrer eigenen Phantasie verkehrt.
„Die höchste Eigenschaft des Menschen hat sich mit der niedrigsten vereint, die geistige Aktivität wurde durch die seelische Aktivität ersetzt. Diese beiden Energieströme, der geistige und der denkende, verschmolzen auf widernatürliche Weise miteinander.“
Da der Verstand die Fähigkeit verlor, zu Gott emporzusteigen, wurde der Intellekt zum Zentrum der Gotteserkenntnis. Infolgedessen entstanden falsche religiöse Traditionen, satanische Kulte und natürlich der Atheismus.
Eines der Produkte der theologischen Erkenntnis der Vernunft ist unsere Buchtheologie geworden. Dieser Gedanke mag uns seltsam erscheinen. Aber Tatsache ist, dass wir Gott nicht mehr kennen, weil wir den direkten Kontakt zu ihm verloren haben, und uns daher nichts anderes übrigbleibt, als das Wissen durch Vorstellungen zu ersetzen. Die Theologie, die auf dem Denken aufbaut, ist nicht die Erkenntnis Gottes, sondern die Vorstellung, die Phantasie unseres Verstandes darüber, wie er sich Gott vorstellt. Auf dieser Phantasie beruht ausnahmslos die Lehre in allen theologischen Schulen. Aber wir haben keine andere Möglichkeit, Gott zu erkennen. Wir müssen also die Möglichkeiten nutzen, die uns noch bleiben.
Es wäre richtig, wenn gelehrte Theologen nicht vergessen würden, ihren Studenten zu sagen, dass der Intellekt nicht in der Lage ist, uns zur Gotteserkenntnis zu bringen. Er kann es prinzipiell nicht tun. Wenn die intellektuelle Vernunft zu theologisieren beginnt, gerät sie immer in die Sackgasse der Selbsttäuschung.
Aber die Verdunkelung der Vernunft endet hier nicht. Nachdem sie sich von Gott abgewandt hat, verbündet sie sich mit dem Teufel, indem sie seine Werte und seine Vorstellung vom Sinn des Lebens annimmt. Das ist der Grund, warum die menschliche Zivilisation dem Untergang geweiht ist. Früher oder später wird sich der Hedonismus (das Streben nach Vergnügen) zwangsläufig zu einem offenen Satanismus entwickeln. Das ist unvermeidlich. Das Aufkommen des Internets und der Globalisierung ermöglicht es der Ideologie und der Politik des Teufels, direkten Zugang zu einem jeden einzelnen Menschen zu haben. Die Vernunft, die sich auf den Leib und seine Bedürfnisse eingestellt hat, hat den Menschen fleischlich und seelisch gemacht.
Die wichtigste Folge des Sündenfalls war, dass der Mensch ein Ich entwickelte. Diese Pathologie entstand als Folge des Verlustes der Gottesgemeinschaft. Der Mensch verschloss sich in sich selbst und wurde einem Götzen seiner selbst.
Er hat aufgehört zu verstehen, dass das Leben für ihn die Vereinigung mit Gott und der Tod die Entfernung von ihm ist. Das Schlimmste am Zustand des modernen Menschen ist, dass sein Geist weiterhin schläft, befallen vom Sündenfall. Dieser Schlaf ist identisch mit dem Tod. Der Mensch ist tot im Geist. Unser Geist befindet sich in einem Zustand, der dem klinischen Tod ähnelt. Und was wir als Leben wahrnehmen, ist eher ein Traum. Es ist ein Film, den uns unsere Vorstellungskraft in Verbindung mit den Sinnen zeigt. Die Kinogesellschaft „Verstand und Sinne“ dreht für jeden von uns eine eigene Serie. Aber wenn wir zum Finale kommen und die Leinwand erlischt, stellt sich heraus, dass alles, was wir gesehen haben, alle unsere Vorstellungen von Gott, von uns selbst und von der Welt, nur Einbildung waren, die Phantasien des Intellekts. Und die Welt außerhalb des Kinos des Gehirns wird sich als ganz anders erweisen.
Die Praxis des Hesychasmus zielt darauf ab, den eingeschlafenen Geist, zu wecken, ihn durch die Praxis des unaufhörlichen Gebets wiederzubeleben. Wir müssen aus unserem gottlosen Schlummer erwachen, um unser wahres Bewusstsein zu wecken. Anstelle der wahren Persönlichkeit, die von Gott nach seinem Bild und Gleichnis geschaffen wurde, lebt nun unser Doppelgänger - der Egoist - in uns. Um ihn zu besiegen und unsere wahre Persönlichkeit zu erwecken, brauchen wir einen komplexen Einfluss auf die körperlichen, geistigen und seelischen Komponenten unserer menschlichen Natur. Körper und Gefühle werden durch Askese und Enthaltsamkeit behandelt. Die Vernunft durch die Tätigkeit des Geistes, durch das Jesus-Gebet.
Die Essenz des Hesychasmus ist die Achtsamkeit oder die Praxis, den Geist zu erheben, oder besser gesagt, ihn in das Herz zu bringen, an den Ort, an dem er nach Gottes Plan sein soll. Um unseren Geist wiederherzustellen und ihn mit Gott zu vereinen, ist es notwendig, dass der Geist Gottes in unseren Geist eintritt und ihn belebt. Dazu ist es notwendig, in direkte Gemeinschaft mit Gott zu treten, denn Gottes Wiederherstellungswerk in uns ist seine Gemeinschaft mit unserem Geist. Um dieses Ziel zu erreichen, wird die hesychastische Methode der Tätigkeit des Geistes angewandt. Das Hauptinstrument ist hierbei das Gebet der Vernunft und des Herzen, durch das sich die Vernunft mit dem Geist-Herz und darin mit Gott vereint. Von hier aus beginnt die Auferstehung von den Toten.
Jeder Mensch, der auch nur ein wenig geübt im fleißigen Gebet ist, weiß, wie es ist, wenn der Geist während des Gebets zerstreut ist. Wenn die Aufmerksamkeit zerstreut ist und der Verstand sich weigert, die Worte des Gebetes zu fassen.
Um dies zu verhindern, muss man dafür sorgen, dass die Energie der Seele, die sich im Intellekt befindet und durch die Sinne in Richtung der geschaffenen Welt ausgegossen wird, in unser geistiges Herz zurückkehrt. Das Hauptinstrument einer solchen Heilung ist die Tätigkeit des Geistes. Sie unterbricht die Verbindung des Geistes mit dem Intellekt und bringt ihn in das Herz.
Im Grunde genommen muss der Mensch zu sich selbst zurückkehren, in sich kehren. Solange unser Geist in der Außenwelt umherirrt, sind wir nicht bei uns selbst. Unsere Aufmerksamkeit ist nach außen gerichtet, wenn es um die äußere Welt und ihre Angelegenheiten geht. Wenn es um etwas geht, das außerhalb unseres Blickfeldes liegt, wendet sich der Geist entweder der Erinnerung oder der Vorstellung zu. Indem er die Aufmerksamkeit mit Hilfe der Atmung und anderer Übungen in sich selbst hält, zwingt der Asket den Geist, in der Brust zu sein und von dort aus den Worten des Gebets ohne Ablenkung zu lauschen.
Wenn diese Praxis ständig angewandt wird, führt sie dazu, dass das Herz schließlich beginnt, auf die Worte des Gebetes zu reagieren, und der Geist wird, anstatt aus der Brust herauszuspringen und sich den Gedanken hinzugeben, die Süße des Gebetes zu spüren, wird sich daran gewöhnen, in tätigem Gebet und Ruhe zu verharren. Mit der Zeit wird die Gnade Gottes selbst den Verstand in das Herz bringen, und der Mensch wird in der Lage sein, jenen Zustand zu erreichen, den die heiligen Hesychastenväter Kontemplation nennen.
Die Praxis des Hesychasmus macht es sich zur Aufgabe, drei Ziele zu erreichen, die in ihrer Einheit das sind, was man in der Orthodoxie Erlösung nennt. Das ist konkret die Leidenschaftslosigkeit, die Gottesschau und die Vergöttlichung.
Lesen Sie auch
Neumärtyrer des 20. Jahrhunderts: Hieromärtyrer Alexander Charkowskij
Er wurde erst recht spät, mit 49 Jahren, zum Priester geweiht, und sein bischöflicher Dienst fand in den schwierigen 1930er Jahren statt. Aber all das hätte nicht sein müssen ...
Jage nicht den Gedanken nach, lebe in Stille
Der Krieg erinnert uns immer wieder daran, dass wir nur der Staub der Erde sind.