Theologie der Liebe und Theologie des toten Buchstabens
Apostel Johannes der Theologe. Foto: Open Source
Der erste wahre Theologe der Orthodoxen Kirche ist der Apostel Johannes, ein einfacher Fischer, der weder in Büchern noch in der weltlichen Weisheit begangen war. Würden moderne Wissenschaftler den Titel „Theologe“ einem Apostel verleihen, dann zweifellos dem Apostel Paulus. Dafür gäbe es Gründe genug – Gelehrsamkeit, Bildung, Wissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten. Doch in der Kirchengeschichte kam es anders, wohl weil der Weg zur Gotteserkenntnis die Liebe ist, nicht die Bücherweisheit.
Bücherweisheit führt nicht zur Theologie, sondern zu Religion, die den Menschen zur Überheblichkeit statt zur Liebe, zu einer hohen Selbsteinschätzung statt zur Demut führt. Theologie geht den Weg des Leidens und trägt die Wunden Christi. Darin liegt nichts außer Liebe. In Bosheit und Hass werden Lügen offensichtlich, in Liebe aber wird die Wahrheit erkannt. Buchwissen beantwortet keine Fragen über Gott, es vervielfältigt sie nur. Wer von seinem Wissen viel hält, wird manche lehren, bei anderen nach Schwächen suchen und andere wiederum anprangern. Ein Theologe wird alles nutzen, was geschieht, damit sein unsterblicher Geist von anderen anerkannt wird.
Alles in dieser Welt wird „gestern“ sein. Nur du und Gott werden immer „jetzt“ sein.
Alles liegt in Gottes Händen, nicht in unseren. Ein Theologe ist jemand, der sein ganzes Leben und all seine Hoffnung in Gottes Hände legt. Um Theologe zu werden, muss man seine Leiden mit der Liebe Christi überwinden. Man verzichtet nicht auf den Willen Gottes, auch wenn er dem eigenen widerspricht. Der Theologe geht zu Gott, solange er Kraft hat und gehen kann. Und wenn seine Kraft erschöpft ist, führt Gott selbst ihn in sein Reich.
Ein Mönch erzählte seinen Schülern von einem gewissen Ältesten (bzw. zu einem in der geistlichen Vaterschaft erfahrenen Mönch), der als Theologe verehrt wurde. Dieser Älteste wiederholte immer wieder: „Ich kenne alles, was in meiner Bibel steht.“ Und alle neigten respektvoll die Köpfe und flüsterten einander zu, dass solche Experten der Heiligen Schrift sehr selten geworden seien. Und der Respekt und die Ehrerbietung derer, die den alten Mönch umgaben, wuchsen von Tag zu Tag. Eines Tages hörte einer der jungen Mönche diese Worte erneut und wagte es, den Ältesten zu fragen: „Na gut, Vater, dann erzähl uns allen doch: Was steht in deiner Bibel?“. Der alte Mönch lehnte sich in seinem Stuhl zurück und sagte: „Meine Bibel enthält ein Foto meines verstorbenen Ältesten und mehrere Briefe von ihm aus meiner Zeit als junger Mönch, von denen ich jede Zeile kenne.“
Der Schreiber kennt alles, was in seiner Bibel steht. Er kennt seine Gedanken, seine Argumente und seine Schlussfolgerungen. Er streitet mit denen, die anderer Meinung sind, und ist beleidigt, wenn man ihn kritisiert. Er glaubt an seine Bibel und kämpft mit anderen um diesen Glauben.
Der Theologe streitet nicht und nimmt niemanden übel. Er weiß mit Sicherheit, dass alles von Gott besonnen und bestimmt ist. Deshalb hat er jede Sorge um das Schicksal dieser Welt aufgegeben und kümmert sich nur um sein eigenes Heil. So hilft er der Welt mehr als alle Herrscher, Politiker, Reichen und Wissenschaftler zusammen. Der Herrscher glaubt an die Bedeutung seiner Herrschaft. Der Politiker glaubt an die Bedeutung seines Handelns. Der Reiche glaubt an die Bedeutung seines Reichtums. Der Wissenschaftler glaubt an die Bedeutung seiner Entdeckungen. Doch ohne Gnade ist all dies ein leerer Mythos und ein irdischer Traum. Nur das Verständnis der Gnade bringt Frieden und Weisheit, die nicht von dieser Welt sind, in der es keinen Hass, keinen Groll, keine Feindseligkeit gegenüber irgendjemandem oder irgendetwas auf dieser vergänglichen, vergänglichen Welt gibt, in der nichts länger als einen Augenblick währt. Der Theologe plant weder sein eigenes Leben noch das von anderen um des Glücks willen. Dafür sorgt Gott.
Ein Theologe ist in all seinem Handeln in erster Linie ein Christ. Er versucht stets, aufmerksam im geistlichen Herzen zu bleiben und unmittelbar zu begreifen, dass er ein unsterblicher und guter Geist ist, geschaffen nach dem Ebenbild Gottes. Wenn die Existenz von etwas außer Gott zulässt, hört er auf, ein Theologe zu sein. Bücherwürmigkeit ist immer hastig, spirituelles Leben geduldig. Ein Schriftgelehrter, der nur an seinen Verstand glaubt, lässt einen Dämon in sich heranwachsen. Wer nur an diese Welt glaubt, der schafft die Hölle. Der Verstand kultiviert falsche Vorstellungen von Gott, der Welt und dem Menschen und gibt sie als hohe Theologie aus.
Willst du wissen, ob du ein Theologe bist? Dann frage dich: „Habe ich mich von der Angst befreit?“ Wer in der Gnade Gottes lebt, kennt keine Angst. Der Schriftgelehrte lebt vom Verstand, der seine Freiheit fesselt und mit seinen Erfindungen Angst macht.
Einem Theologen ist es egal, ob er an Kriegsverletzungen oder an einem natürlichen Tode stirbt. Für ihn ist nur eines wichtig: die Unsterblichkeit des eigenen Geistes zu begreifen, sich von allen irdischen Umständen zu befreien und das ewige Leben in Christus zu erlangen. Ewiges Leben kann nur durch den Verzicht auf das irdische Leben gefunden und erlangt werden. Der Theologe begreift die Wahrheit, die ihn frei macht, und in dieser Freiheit endet alles Irdische.
Bücher lesen ist intellektuelles Wissen. Es ist Sprechen. Gnade zu erlangen ist geistliches Wissen. Es ist eine unermüdliche Praxis. Ein Theologe weiß das zu unterscheiden. Was er um sich herum sieht, nennt er sein Schicksal. Und was er in sich sieht, nennt er seine Erlösung. Das Credo der Theologie ist einfach. Willst du das jenseitige Licht in dir sehen? Sei geduldig. Willst du göttliche Liebe in dir spüren? Sei demütig. Mit Menschen zusammen sein, ohne sich von Gott zu trennen – darauf baut die Praxis der Theologie auf.
Wer sich als Körper betrachtet, fürchtet sich vor unheilbaren Krankheiten. Wer sich als Geist betrachtet, fürchtet sich vor zwanghaften Gedanken. Wer mit Hilfe der Gnade seinen Geist erkannt hat, fürchtet sich vor nichts mehr. Es ist besser, mit Gott allein zu sein als mit dem besten Buch.
Die irdische Geschichte kennt viele gute und aufrichtige Gelehrte, Philosophen und Buchtheologen. Doch sie alle kamen aus der Dunkelheit und gingen in die Dunkelheit, solange sie Christus nicht kannten.
Jemanden besonders zu lieben oder zu hassen, ist Egoismus. Alle ohne Anhaftung und Hass zu lieben, allen zu vergeben und allen Menschen Erlösung zu wünschen, ist Theologie. Das Leben ist nur schön, wenn es ewiges Leben ist. Alles andere ist nur Schmerz und Enttäuschung. Es ist unmöglich, Gott ohne Liebe zu dienen, und ohne sie wäre jedes Stehen vor dem Thron vergebliche Mühe mit unvorhersehbaren Folgen. Geistige, gnadenvolle Freude ist ein sicheres Zeichen wahrer Theologie und des Aufstiegs zur Gotteserkenntnis. Diese stille, strahlende Freude entsteht im richtigen, demütigen und reuevollen Gebet, das zur Stille des Geistes führt.
Ein Theologe ist in erster Linie ein Mensch, der betet. Das Jesusgebet ist kein Zauberspruch wie das Krächzen einer Krähe und keine sinnlose, monotone Wiederholung wie das Gemurmel eines Papageis. Jenes Gebet wird durch reuevolle, betende Mühe erworben. Daraus wächst eine gnadenvolle Erfahrung. Gnade erlangt man durch vollkommene Demut. Demut entsteht durch die völlige Hingabe zu Gott. So wird ein Christ zum Theologen. Das Jesusgebet ist die gnadenvollste Zärtlichkeit und Liebe der Gemeinschaft mit Gott. Wir schauen in viele Gesichter, um Gott zu begegnen, doch wir werden Ihn nur dann sehen können, wenn wir auf unser eigenes Gesicht vergessen.
Ein Einsiedler hatte eine Vision, von der er seinen Brüdern erzählte: „Ich sehe eine große Versammlung von Mönchen, die auf eine Vision des Herrn warten. Diejenigen, die das Paradies sahen, rannten dorthin. Diejenigen, die die Hölle sahen, schreckten davor zurück. Diejenigen, die die Welt sahen, starrten sie an. Und nur wenige Mönche blieben stehen und beteten zum Herrn. Und der Herr fragte sie: „Was wünscht ihr euch, eine kleine Handvoll?“ Und die übrigen Mönche fielen auf die Knie, erhoben die Hände und sagten unter Tränen: „Nur mit dir, geliebter Christus, wünschen wir uns vereinigt zu sein und nur in dir suchen wir ewige Ruhe von unseren Nöten!“
Das ist Theologie.
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Zum Gedenken an den Apostel und Evangelisten Johannes den Theologen.
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